Seit dem 7. Oktober 2023 steht meine Welt Kopf. Meine politischen Kategorien von „Gut“ und „Böse“, „Richtig“ und „Falsch“ sind ins Wanken geraten. Da sieht man eine Greta Thunberg mit eindeutig antisemitistischen Symbolen posten. Man staunt über eine Eliteuni-Präsidentin, die es in einer Anhörung im US-Kongress nicht schafft, den Aufruf zum Völkermord an den Juden an ihrer Universität klar als Belästigung und Mobbing zu bezeichnen. Trotz der überwältigenden Beweise von unfassbarer sexualisierter Gewalt der Hamas gegen Frauen und Mädchen am 7. Oktober gibt es keinen Aufschrei der großen Frauenrechtsorganisationen wie UN Women.

Andererseits gewinnt in den Niederlanden der Rechtsextreme Geert Wilders Wahlen. Im Hintergrund der Videoaufzeichnung ein interessantes Detail: Da steht nicht nur die Fahne der Niederlande, sondern auch die eines einzigen weiteren Landes: Israel.

Hä???

Was ist passiert, dass die Kategorien, in denen ich bis vor kurzem gedacht habe, nicht mehr funktionieren?

Einer, der auch in seinem Weltbild tief erschüttert worden ist, ist Igor Levit, der bekannte Pianist. Er ist Jude, aber das hat bis jetzt kaum eine Rolle in seinem Leben gespielt. („Das Resultat der aktuellen Entwicklungen ist: Nichts hat mich so sehr zum Juden gemacht, wie das.“) In dem Interview mit der ZEIT (Jahrgang 2023 Ausgabe 48) beschreibt er es so:

Ja, das Weltbild ist erschüttert, aber für mich ist klar geworden: Ich positioniere mich klar und eindeutig gegen den Antisemitismus, auch wenn er im linken politischen Spektrum (in dem ich mich verorte) vorhanden ist. Judenfeindlichkeit ist für mich ein NO-GO. Es erschüttert mich, dass sich in unserem Land jüdische Kinder nicht mehr allein in die Schule oder in den Fußballklub trauen. Ich wehre mich gleichzeitig gegen pauschalisierte Islamfeindlichkeit und Fremdenhass, denn der spaltet nur. Ich lasse mir meine Freude am Engagement für Klimaschutz und für soziale Gerechtigkeit nicht nehmen, auch wenn es ein paar irrgeleitete Gallionsfiguren der Klimabewegung gibt. Ich solidarisiere mich außerdem mit allen Frauen, die Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind – ganz egal, in welchem „Kontext“ die Gewalt passiert ist. Ich trauere mit Müttern, deren Kinder als Geiseln im Gazastreifen gehalten werden oder die als junge Soldaten im Verteidigungskampf gefallen sind – teilweise nicht viel älter als mein Sohn. Ich darf auch mit den Menschen im Gazastreifen leiden, die von terroristischen Machthabern als menschliche Schutzschilder missbraucht werden.

Als ich über meinen Beitrag zum Newsletter nachdenke, erreicht mich der Weihnachtsgruß der Grünen Niederösterreich. Normalerweise überfliege ich diese Post nur, meist sind das die üblichen Floskeln. Diesmal bin ich jedoch überrascht. So viel Klarheit und Haltung hätte ich nicht erwartet:

„Unter die besinnlichen Weihnachtserzählungen mischen sich auch Gedanken der Demut, der Trauer und des Mitgefühls für alle Unschuldigen, die sowohl im Terrorangriff der Hamas als auch durch Raketen im Gaza-Streifen getötet wurden. Diese Gefühle machen uns zu Menschen. Und dennoch dürfen sich politische Menschen vom Opfermythos der Terrorgruppe Hamas nicht beirren lassen. Als politischer Mensch muss man sich klar auf die Seite des Staates Israel stellen, so wie wir es bei der Ukraine tun.“

Datum: 19/12/2023